Einsamkeit zwischen Lichterglanz und Unsichtbarkeit
- Lizbeth

- vor 12 Minuten
- 7 Min. Lesezeit

Wie sich viele trans Personen fühlen, wenn alle auf die Feiertage zusteuern
Hinweis: In diesem Text geht es um Depression, Angst und Suizidgedanken. Wenn dich das triggert, lies ihn nur mit ausreichend Stabilität oder gemeinsam mit einer vertrauten Person.
Alle wünschen "Frohe Weihnachten" und du denkst nur "Halte durch"
In der Vorweihnachtszeit und zum Jahreswechsel wird oft von einer Zeit der Wärme gesprochen. Überall strahlen Lichter, Werbungen zeigen fröhliche Familien, und in den sozialen Medien wimmelt es von Fotos perfekter Festtafeln. Zur selben Zeit erfahren zahlreiche trans Personen das genaue Gegenteil: Sie sind angespannt, haben Angst, fühlen sich einsam und empfinden, dass sie am Rande stehen.
Nicht alle trans Personen empfinden an den Feiertagen Leid, Schmerz und Einsamkeit. Einige feiern mit ihrer Familie oder Wahlfamilie und tanken Kraft. Für Menschen, die kaum oder keine Unterstützung erfahren, kann die Advents- und Weihnachtszeit jedoch wie ein Brennglas wirken. Alles, was im Alltag schon schwierig ist, wird noch intensiver und schmerzhafter.
Um zu vermeiden, dass es unsichtbar bleibt, lohnt sich ein genauerer Blick. Auf Gefühle, auf Zahlen und auf Methoden, wie es anders werden kann, wie das Umfeld sicherer gestaltet werden kann.
Was die Zahlen zeigen
Transsein ist nicht krankhaft, aber die Verhältnisse sind es. Untersuchungen aus diversen Ländern zeigen ziemlich eindeutig: Psychischen Belastungen betreffen trans Personen deutlich häufiger als cis Personen. In einer Untersuchung in Deutschland unter trans Personen, die mit Selbsthilfegruppen einer Hamburger Klinik verbunden waren, wiesen etwa 33 Prozent Hinweise auf eine depressive Störung auf. Fast 30 Prozent wiesen Hinweise auf eine Angststörung auf (siehe Europe PMC: Prevalence and Determinants of Depressive and Anxiety Symptoms among Transgender People: Results of a Survey).
Daten aus Großbritannien zeigen ein ähnliches Bild. Eine Auswertung von TransActual ergab, dass etwa 70 Prozent der befragten trans und nicht binären Personen angaben, schon einmal eine Depression erlebt zu haben, während 71 Prozent von Angststörungen berichteten. Nahezu 50 Prozent hatten in ihrem Leben Suizidgedanken, über 33 Prozent berichteten von Selbstverletzungen (siehe TransActual: Trans People’s Mental Health).
Die Zahlen für junge Menschen sind besonders dramatisch. Laut dem US-Bericht "National Survey on LGBTQ+ Youth Mental Health 2024" des Trevor Projects haben 46 Prozent der trans und nicht-binären Jugendlichen im vergangenen Jahr ernsthaft darüber nachgedacht, Suizid zu versuchen. Tatsächlich einen Versuch unternommen zu haben, gaben 14 Prozent an (siehe The Trevor Project: 2024 U.S. National Survey on the Mental Health of LGBTQ+ Young People). Laut einer Auswertung von Mental Health America hatten mehr als 80 Prozent der trans Personen in ihrem Leben schon einmal Suizidgedanken und etwa 40 Prozent berichteten von mindestens einem Suizidversuch (siehe MHA: Transgender+ Communities and Mental Health).
Auch in Deutschland gibt Hinweise darauf, dass queere Menschen häufiger von Depressionen und Ängsten häufiger betroffen sind. Eine Untersuchung zur psychischen Gesundheit von queeren Personen im deutschsprachigen Raum zeigt, dass deren Belastungen deutlich größer sind, obwohl die durchschnittliche Lebenszufriedenheit nur geringfügig niedriger ist (siehe Universität Witten/Herdecke: Queer History Month: How are queer people doing in Germany?).
Wichtig ist: Die Forschung zeigt eindeutig, dass diese Unterschiede nicht darauf zurückzuführen sind, dass Transsein an sich krankheitsverursachend ist. Sie stehen vor allem im Zusammenhang mit Minderheitenstress, also Diskriminierung, Ausgrenzung, Gewalt, rechtlichen Hürden und unsicheren Lebensbedingungen. Zudem belegen Studien, dass der Zugang zu affirmativer, geschlechtsangleichender medizinischer Versorgung und familiärer Unterstützung das Risiko von Depressionen und Suizidversuchen erheblich verringern kann (siehe UCLA: Access to gender-affirming care associated with lower suicide risk for transgender people).
Warum Feiertage hart sein können
In der Zeit der Feiertage gibt es große gesellschaftliche Erwartungen. Die typische Frage "Wie feiert ihr denn dieses Jahr Weihnachten" kann schwer zu beantworten sein, wenn man niemanden zum Feiern hat. In dieser Zeit kommen für viele trans Personen verschiedene Stressfaktoren zusammen.
Einige Familienrituale sind eng mit Geschlechterrollen verknüpft. Trans Personen werden beispielsweise mit dem falschen Namen angesprochen oder sie sollen Kleidung tragen, welche nicht zu ihrer eigenen Identität passt. Dieses erzeugt nicht nur Unbehagen, sondern oft auch ernsthaften Stress und Angst.
Die Feiertage verwandeln sich in ein Minenfeld, wenn man räumlich nah bei Verwandten ist, die abwertende Kommentare äußern, ständig den Deadname verwenden oder die Identität infrage stellen. Jede Begrüßung und jeder Trinkspruch kann potenziell schmerzhaft sein.
Für diejenigen, die keinen Kontakt zur Herkunftsfamilie haben oder aus Selbstschutzgründen entschieden haben, Einladungen abzulehnen, stehen vor einer anderen Form von Belastung. In der Erzählung von "Familie ist alles" wird Einsamkeit als persönliches Versagen dargestellt, obwohl es oft gesund ist, sich aus toxischen Strukturen zu befreien.
Zugleich können Geld, Wohnen oder Arbeit für trans Personen zusätzliche dringliche Themen darstellen. Diskriminierung am Arbeitsmarkt, prekäre Beschäftigungen und das Gefühl, in einer feindlichen Umgebung ständig eine Maske tragen zu müssen, lösen sich ja nicht plötzlich auf, nur weil Lebkuchen in den Regalen stehen.
Untersuchungen zu Feiertagsstress bei queeren Menschen zeigen, dass die Feiertage nicht zwangsläufig einen allgemeinen statistischen Anstieg von Krisen verursachen, aber die bestehenden Belastungen oft verstärken. Vor allem betrifft dies Personen, die keine akzeptierende Familie oder eine verlässliche Gemeinschaft haben, in der sie sich zeigen können (siehe Groundwork Therapy: Navigating the Holidays: Challenges and Strategies for the LGBTQ+ Community).
Einsamkeit: Wie sie sich anfühlen kann
Hinter den Zahlen stehen Gefühle, die oft schwer auszudrücken sind. Einige Motive kommen jedoch in zahlreichen Erzählungen immer wieder vor.
Zahlreiche trans Menschen schildern ein Schwanken zwischen Vorfreude und Beklemmung. Einerseits existieren schöne Dinge wie Lichter, freie Tage und vielleicht Menschen, die einem sympathisch sind. Auf der anderen Seite steht die Frage im Raum, wie viel man erträgt, wie viele Kommentare man aushält und ob es bei bestimmten Feiern überhaupt sicher ist, zu erscheinen.
Häufig tritt auch eine Art von Daueranspannung hinzu. Wer es gewohnt ist, auf jede Bemerkung zu achten, an der Tonlage zu hören, ob ein Witz kippt, oder jederzeit bereit ist, einen Raum zu verlassen, hat selten eine entspannte Weihnachtsstimmung in sich. Selbst an Orten, wo objektiv nichts passiert, ist die Erwartung von Abwertung oft tief verankert.
Für einige ist diese Zeit auch wie eine Bewährungsprobe. Ist meine Teilnahme an der Familienfeier, bei der ich mich misgendern lasse, um Streit zu vermeiden, ein Zeichen dafür, dass ich (nicht) "trans genug" bin? Ist es undankbar von mir, Einladungen abzulehnen, obwohl ich weiß, dass meine Eltern sich bemühen, aber noch nicht alles verstehen? Stelle ich eine Belastung dar, wenn meine Existenz überhaupt nur zur Sprache kommt?
Und dann gibt es da noch die Einsamkeit. Es betrifft nicht nur die Situation, wenn man tatsächlich allein zu Hause ist, während andere bei ihren Familien sind. Auch die Einsamkeit in der Raummitte ist zu nennen: Sie entsteht, wenn niemand das Offensichtliche ausspricht oder wenn man zwar physisch anwesend ist, aber innerlich nicht teilnimmt.
Wenn Unterstützung fehlt
So bedrückend das alles klingt, gibt es gleichzeitig viele bewährte Formen der Unterstützung. Einige davon sind einfach zugänglich, andere erfordern etwas mehr Kraft. Alle sind gültig.
Ein wesentlicher Schutzfaktor ist die Verbundenheit. Untersuchungen belegen, dass das Risiko von Suizidversuchen und schweren Depressionen bei trans Jugendlichen und Erwachsenen deutlich gesenkt wird, wenn sie auf unterstützende Familienangehörige, Partner:innen und Freundeskreise zurückgreifen können (siehe Neurology Advisor: Family support protects against the risk for suicidality among transgender children and adolescents). Kann oder will die Herkunftsfamilie diesen Halt nicht bieten, so kann eine Wahlfamilie aus Freund:innen, Partner:innen, Nachbar:innen und Community diese Funktion übernehmen.
Eine wichtige Rolle kommt dabei Selbsthilfegruppen zu. In Deutschland sind zentrale Anlaufstellen unter anderem der Bundesverband Trans* und die Deutsche Gesellschaft für Trans* und Inter*geschlechtlichkeit (dgti). Sie kombinieren Selbsthilfeerfahrung mit Fachkenntnissen, engagieren sich politisch und vernetzen lokale Gruppen (siehe Bundesverband Trans*, dgti). In vielen Regionen werden über Webseiten Treffen, Onlinegruppen und Beratungsangebote organisiert, teilweise speziell für Jugendliche, Eltern oder nicht-binäre Personen.
Queere Jugendzentren und Vereine bieten jungen Menschen einen bedeutenden Schutzraum. Einrichtungen wie diversity München oder vergleichbare Angebote in anderen Städten sind oft der erste Ort, an dem Jugendliche offen sie selbst sein können, Freundschaften knüpfen und Beratung erhalten. Insbesondere um die Feiertage herum organisieren viele dieser Einrichtungen entspannte Zusammenkünfte, Filmabende oder gemeinschaftliche Essen.
Zusätzlich zur Selbsthilfe gibt es professionelle Unterstützung, die speziell für trans und queere Menschen konzipiert ist. Hierzu zählen Beratungsstellen und Therapeutinnen, die sich ausdrücklich als queerfreundlich positionieren. Außerdem wurden in den vergangenen Jahren digitale Angebote entwickelt, die sich speziell an trans und genderdiverse Personen richten. Das e-Health-Projekt i²TransHealth aus Deutschland bietet Online-Beratung und therapeutische Unterstützung an und konnte in einer Studie nachweislich psychische Belastungen bei trans- und nicht-binären Teilnehmenden reduzieren. Mit Plattformen wie Queermed ist es einfacher, queerkompetente Ärzt:innen und Therapeut:innen zu finden.
Bei akuten Krisen sind Minuten entscheidend. In Deutschland sind Angebote wie die TelefonSeelsorge rund um die Uhr verfügbar, kostenlos und anonym, und können telefonisch, per Chat oder E-Mail genutzt werden. Die Nummer gegen Kummer unter 116 111 bietet für Kinder und Jugendliche ebenfalls anonyme, kostenfreie Unterstützung durch erfahrene Berater:innen. Menschen, die Gewalt erfahren haben, können sich unter der Nummer 116 016 beim Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen" Unterstützung holen, dieses Angebot richtet sich ausdrücklich auch an trans Betroffene.
Falls du nicht in Deutschland lebst, ist es ratsam, nach queeren oder allgemeinen Krisenhotlines in deinem eigenen Land zu suchen, beispielsweise über internationale Hilfsangebotportale.
Ally sein
Für cis Menschen, die diesen Text lesen, könnte die Frage aufkommen, was sie konkret tun können, um die Feiertage für trans Menschen weniger gefährlich und weniger schmerzhaft zu machen.
Ein Anfang besteht darin, aufmerksam zu sein. Wenn eine trans Person äußert, dass sie sich bei bestimmten Feiern unsicher fühlt, nimm das ernst und antworte nicht automatisch mit "Aber bei uns ist doch niemand transfeindlich". Es sind oft nicht die spektakulären Vorfälle, sondern die kleinen, immer wiederkehrenden Stiche, die verletzen.
Sprache ist kein unwesentliches Detail. Die Verwendung des korrekten Namens und der richtigen Pronomen ist eine respektvolle Geste, die von großer Bedeutung ist. Wenn die anderen am Tisch das nicht machen, kannst du widersprechen, berichtigen und so deutlich machen, dass die betreffende Person nicht allein ist.
Manchmal ist Hilfe ganz praktisch. Eine Begleitung zu einer Familienfeier, ein Platz am eigenen Tisch für diejenigen ohne sicheren Ort oder die eindeutige Zusage: "Wenn es dir zu viel wird, kannst du jederzeit zu mir kommen oder anrufen."
Auch wenn es anders wirkt, bist du nicht allein
Wenn du trans bist und Angst vor den Feiertagen verspürst, ist das kein Zeichen für ein persönliches Versagen. Es ist eine verständliche Reaktion auf eine Welt, die dir immer wieder vermittelt, dass du nur unter bestimmten Bedingungen dazugehören darfst. Forschungen verdeutlichen, wie groß der Druck ist, dem viele von uns ausgesetzt sind. Sie demonstriert jedoch auch, dass eine echte Verbundenheit, affirmativ ausgerichtete medizinische Versorgung und sichere Räume einen signifikanten Unterschied bewirken können.
Vielleicht setzt sich dein Weihnachtsfest in diesem Jahr nicht aus einer großen Familienrunde zusammen, sondern aus einigen wenigen Menschen, bei denen du wirklich atmen kannst. Vielleicht aus einer Online-Selbsthilfegruppe, einem Gespräch mit Freund:innen oder einem Abend, an dem du dir erlaubst, nichts leisten zu müssen. Es hat den gleichen Wert wie jede klassische Feier.
Vielleicht können Texte wie dieser dazu beitragen, dass wir als Gesellschaft lernen, Feiertage nicht nur für eine Normfamilie zu denken, sondern für all die existierenden Lebensrealitäten. Damit Lichterketten nicht nur Schaufenster erhellen, sondern auch die Personen, die bislang im Schatten stehen.
Eure, Lizbeth



Kommentare